Digitale Transformation ist kein IT-Projekt
Es gibt viele Gründe dafür, weswegen digitale Transformationsprojekte scheitern. Es mag an der unausgereiften Qualität der zu schnell eingeführten Software gelegen haben oder an der nicht ausreichenden Schulung für die Anwendenden. Vielleicht sogar im Einzelfall an Mitarbeitenden, die sich erfolgreich vor der Digitalisierung ihrer Arbeitsschritte gewehrt haben. Alle diese Begründungen offenbaren aber denselben blinden Fleck. Digitale Transformation verändert die Art, Arbeit zu organisieren und ist daher mehr als ein IT-Projekt.
Die Beratungsgesellschaft Metaplan hat zusammen mit Brand Eins das Whitepaper „Der blinde Fleck – Warum digitale Transformationsprozesse meist an der Organisation scheitern und was man dagegen tun kann“ veröffentlicht. Im Papier werden Scheinwerfer auf die Themen Entscheidungswege und Führung, Organisationskultur, Mikropolitik und Innovation gerichtet. Dieser Ansatz verbindet Wissenschaft mit Fallbeispielen und bietet zielführende Reflexionsfragen an, um auf die blinden Flecken in der eigenen Organisation zu stoßen.
Aus unserer Sicht kann man aus genau solchen konkreten Fallbeispielen am besten lernen. Gerade schmerzhaftes Scheitern von Digitalisierungsprojekten erhöht die Wahrscheinlichkeit, auf Stellen zu schauen, die unterbelichtet sind. Und vielleicht tut sich im Rückblick sogar ein ehemals blinder Fleck auf, der dank neuer Erkenntnis kräftig ausgeleuchtet wurde.
Auch wenn es schwierig bleiben wird, das eigene Unternehmen, die eigene Verwaltung oder den eigenen Verein in den eingerichteten Verhältnissen zu beobachten, können Beispiele wie die folgenden vielleicht helfen, Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten zu reflektieren.
Mit den folgenden zwei Fallbeispielen wollen wir einen ersten Aufschlag machen, um an Hand solcher Beispiele die blinden Flecken in Digitalisierungsprozessen zu veranschaulichen. Wir freuen uns, wenn sich weitere Expeditions-Teilnehmer:innen anschließen und im Folgenden ihre Beispiel aus der Praxis teilen.
Mein blinder Fleck
Von Jens Aßmann
Ich bin vor einigen Jahren Teil eines Reorganisatiosteams gewesen. Die geplante Reorganisation war ziemlich umfassend: Ein neues Organigramm, die erstmalige Einführung von Prozessen, jede Menge Projekte für unsere bitter notwendige digitale Transformation. Es gab kaum einen Stein, den wir nicht umgedreht hatten. Das Ziel war die Aufarbeitung des Reformstaus. Demnach wurden in jeder Sitzung des Reorganisationsteams etliche Themen besprochen und diskutiert, um unsere Strukturen verändern zu können.
Aber irgendetwas störte mich. Es gab kein Protokoll, keine klar notierten Aufgaben mit Zuständigkeiten, keine echten Deadlines. In Anbetracht dessen, dass unsere Themen alle etwa 350 Kolleginnen und Kollegen im Haus betrafen, fühlte ich mich unwohl bei dieser Art des Projektmanagements. Mir fehlten Verbindlichkeit und Struktur, um unsere Aufgabe gut zu erledigen. Eine so lockere und unverbindliche Art der Zusammenarbeit war ich nicht gewohnt.
| Ein digitales Projektmanagementtool ist die Lösung
In der folgenden Sitzung schlug ich vor, dass ich mich um ein Projektmanagementtool kümmern würde, um Verbindlichkeit und Struktur reinzubringen: Eine Mischung aus keiner Widerrede und Kopfnicken im Raum. Für mich war klar, dass es ein digitales Tool sein musste. Papierumlauf hatten wir im Haus schließlich schon mehr als genug. Da können wir mit der digitalen Transformation gleich bei uns selbst anfangen. Nach einiger Recherche stieß ich auf ein digitales Projektmanagementtool, das meine Anforderungen erfüllte:
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mehrere Nutzer können an einem gemeinsamen Projekt arbeiten,
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es gab eine Anzeige wie in einem Kanbanboard, die Aufgaben mit dem Status einer Idee, in Arbeit oder erledigt kennzeichnete,
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man konnte Personen zu Aufgaben hinzufügen und Deadlines vergeben.
Gleichzeitig war das Tool aus meiner Sicht nicht so kompliziert, dass man es lange hätte schulen müssen. Also Probelizenz für 30 Tage geholt, alle Nutzer aus der Projektgruppe angelegt und losgelegt. Ich trug alle bestehenden Aufgaben ins Tool ein und fügte Personen als Zuständige hinzu. In der nächsten Sitzung reservierte ich einen Agendapunkt für die Vorstellung des Tools, demonstrierte das Erstellen von Aufgaben und ging auf Fragen ein. Ich war happy. Nun gab es ein digitales Tool, in dem alle Aufgaben mit Zuständigen und Deadlines erfasst waren und mein strukturliebender Geist war beruhigt. Die Reorganisation musste jetzt gut werden!
| Die sitzen das einfach aus
Einige Projektsitzungen vergingen und ich bemerkte, dass manche Aufgaben den gleichen Status hatten, wie beim Eintrag vor einigen Wochen durch mich selbst. Ich sprach mit den einzelnen Personen, bot Hilfe beim Umgang mit dem Tool an, bat in jeder Projektsitzung darum, die Sachstände zu aktualisieren und appellierte an den Kronleuchter, das Tool doch bitte zumindest wöchentlich zu nutzen und die Aufgaben auf den aktuellen Stand zu bringen. Anfangsschwierigkeiten, dachte ich. Na ja, nicht alle sind digital affin, glaubte ich. Appellieren hilft, hoffte ich.
Einige Teammitglieder nutzten das Tool regelmäßig so wie ich. Aber die Mehrheit hat es nie genutzt. Mein Frust über die Kolleginnen und Kollegen stieg, weil ja allen klar sein musste, dass wir es gemeinsam beschlossen hatten und auch für sinnvoll hielten, es zu nutzen. Waren sie zu faul, verstanden sie selbst das simple Tool nicht, oder warum um alles in der Welt kriegten die das nicht hin? Mein Latein war am Ende, alles Appellieren half nichts. Das Tool war gescheitert.
| Von ungewünschten Nebeneffekten
Einige Monate später scheiterte dann die gesamte Reorganisation. Natürlich nicht wegen des ungenutzten Tools. Erst mehrere Jahre später habe ich durch einen Impulsvortrag bei einem Unternehmen, dessen Arbeitsgruppe sich mit digitaler Transformation beschäftigt, wieder an diese Begebenheit gedacht. Es ging um die Anwendung der praktischen Erkenntnisse der erwähnten Metaplanstudie auf den Kontext dieses Unternehmens. Es ging um das Aufspüren blinder Flecken. Ich wurde gebeten die Erkenntnisse der Studie mit Storytellingbeispielen der gescheiterten Reorganisation zu erläutern. Das war der Anlass noch einmal auf die versuchte Einführung eines simplen Projektmanagementtools zu schauen.
| An der Immunabwehr abgeprallt
Erst zu diesem Zeitpunkt habe ich eine andere Sicht bekommen. Erst im Rückblick habe ich verstanden, was ich damals wirklich ausgelöst habe. Mein Ziel war ein professionelles Projektmanagement in Anbetracht der Größe und Relevanz des Thema. Was ich aber gratis dazubekommen hatte, war absolute Transparenz über Aufgaben, Zuständigkeiten und Deadlines. Eine Transparenz unbekannten Ausmaßes für unsere Unternehmenskultur.
Was war passiert? Unsere Kommunikationskultur war davon geprägt, dass wir Vermerke auf Papier zu Sachverhalten an den Chef per Hauspost geschickt haben. Meist hat die Abteilungsleitung ein Thema umrissen, bewertet und einen Handlungsvorschlag gemacht, den der Chef dann angenommen, angepasst oder abgelehnt hat. In der Regel hat außer den Personen in der direkten fachlichen Linie niemand von den Inhalten Kenntnis gehabt. Nicht, weil diese immer so streng vertraulich gewesen wären, die Vermerke lagen offen in einer farblosen Sichtmappe in der Hauspost, sondern weil die Informationen die anderen im Haus gemäß Arbeitsteilung nichts angingen. Silobildung eben. Sie waren nicht zuständig. Eine Form von „Wissen ist Macht“.
Und dann kommt auf einmal jemand mit einem digitalen Tool um die Ecke, das diese Art Kommunikation zu organisieren fundamental in Frage stellt und umstrukturiert:
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Der analoge Papiervermerk wird digital.
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Die gelebte Intransparenz wird zur digitalen vollständigen Transparenz.
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Und zudem wurde ganz nebenbei das Prinzip von Wissen ist Macht umgeworfen.
Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits 15 Jahre Teil dieser Kommunikationskultur. Nichts von der Art, wie wir damals kommunizierten, wäre mir neu gewesen. Ich war Teil dieses Systems und habe selbst so gearbeitet. Mir war schlicht die Transparenz im Reorganisationsteam so wichtig, das ich das Tool unbedingt einführen wollte. An die mögliche Verschiebung von Machtverhältnissen als Nebeneffekt hatte ich gar nicht gedacht. Das war mein blinder Fleck. Ihn erkennt man immer erst dann, wenn er ausgelöscht wurde. Bei mir hat das fünf Jahre gedauert. Demnach bin ich fünf Jahre zuvor auch folgerichtig an der Immunabwehr der Organisation abgeprallt.
Digitalisierung und Agilität
Von Julia Henke
In einem unserer Beratungsprojekte trafen wir auf eine Organisation, die sich gerade in einem Veränderungsprozess ihrer Produktentwicklung befand. Dieser lief bereits eine Weile und war in erster Linie kein Digitalisierungsprojekt, sondern hatte zum Ziel, durch Elemente des agilen Projektmanagements den gesamten Ablauf von der Entwicklung bis zur Auslieferung des fertigen Produkts schneller und effektiver zu machen. Da der Produktlaunch immer von den Leitmessen der Branche abhängig war, gab es unumstößliche Deadlines, zu denen die Produkte bestellfertig entwickelt und produziert sein mussten und dies war regelmäßig eine große Herausforderung. Zusammen mit einer externen Beratungsfirma hatte ein internes Projektteam den neuen Prozess entwickelt.
Wie so oft in Projekten zur Agilisierung von Unternehmensteilen ging mit der Veränderung auch die Einführung einer Software zur Projektsteuerung einher. Zuvor lief die Kommunikation über E-Mails und MS Teams und der Projektfortschritt wurde in Excel dokumentiert.
Wir wurden zu diesem Zeitpunkt ins Projekt gerufen, weil die gewünschten Erfolge des neuen Prozesses bislang ausblieben, man sprach im Gegenteil von Chaos und noch mehr Verzögerungen im Ablauf.
Im Gespräch mit dem Projektkoodinator beschrieb dieser uns, dass er den Anstoß zum neuen Planungstool gegeben hatte. Dieses sollte endlich Struktur in einen vorher sehr unstrukturierten Ablauf bringen. Jede und jeder sollte zu jedem Zeitpunkt einsehen können, was zu tun sei, Verzögerungen sollten frühzeitig sichtbar werden, so dass man rechtzeitig reagieren könne.
Er berichtete uns, dass das Tool jedoch trotz aufwendig aufbereiteter Unterlagen und angebotener Online-Schulungen nur von einigen wenigen genutzt wurde.
Es war mittlerweile so weit gekommen, dass in den Weeklies Project Owner und Scrum Master zusammen mit den anderen Beteiligten kleinteilig die Listen im Planungstool ausfüllten. Gleichzeitig wurde mehr oder weniger verborgen über die neu eingeführten Meetings sowie auch über die Software missfällig gesprochen.
Doch warum nutzten die Beteiligten das Tool nicht, obwohl der Prozess doch in Zusammenarbeit mit vielen Beteiligten gemeinsam gestaltet und beschlossen worden war und für alle eine Verbesserung darstellen sollte?
Im Management vermutete man Veränderungsunwilligkeit vor allem langjähriger Mitarbeiter:innen, eine Haltungs-Frage, die man mit entsprechenden Workshops und Coachings adressieren wollte, die Verantwortungsbereitschaft, Offenheit und Entscheidungskompetenzen schulen sollten.
Als wir mit einigen der Beteiligten sprachen, zeigte sich uns jedoch noch ein anderes Bild:
Der neue agile Prozess war separat zur Linienorganisation als eigenständiges Projekt entwickelt worden. Die Personen, die in ihm wirkten, waren jedoch auch in das Tagesgeschäft eingebunden. Beispielsweise waren die gleichen Entwickler:innen, die für den Entwurf neuer Produkte zuständig waren, auch die, die für Reklamationen verantwortlich und im direkten Kundenservice tätig waren.
Dies stellte sie vor gleich zwei Herausforderungen:
Zum einen kollidierte die Entwicklungszeit des Neuproduktes mit dem wechselnd intensiven Tagesgeschäft. Zum anderen bedeuteten die notwendigerweise pragmatisch-schnellen Lösungen unter Umständen ein höheres Aufkommen von Reklamationen im Nachgang und damit die Aussicht auf eine erneute Kollision von Neuentwicklung und Tagesgeschäft. Die Führungsrollen aus der Linienstruktur wirkten zudem stärker als die nun selbstorganisiert arbeitenden Teams aus dem Projekt. Beides führte zu immer wieder auftretenden ungelösten Kapazitäts- und Priorisierungsproblemen, die jedoch nicht in dem digitalen Projektplanungstool abbildbar waren.
Das Nutzen des Tools glich für die Beteiligten einer Gratwanderung und führte zu einer Verkleinerung ihrer (informellen) Handlungsräume. Die Motivation, das Tool zu nutzen war daher vor allem bei den Personen an Schlüsselpositionen gering, die Effizienzverluste durch die doppelte Kommunikation entsprechend hoch.
Der blinde Fleck – bereits die Veränderung hin zu einer agileren Arbeitsweise in der Produktentwicklung war nicht ausreichend genau organisiert: die Frage, wie man beispielsweise die Schnittstelle zwischen agilen und nicht agilen Einheiten gestaltet, blieb unbeantwortet. Knappe Ressourcen machten überdies Zielvorgaben zur Zumutung. Das digitale Tool konnte diese Schwächen nicht ausgleichen, sondern verstärkte sie zum Teil sogar.
Fazit
Die einfachste Art der Zusammenfassung beider Erzählungen besteht wohl darin zu unterstreichen, dass digitale Transformation weit mehr als die technische Einführung von Tools ist:
Sie verändert Abläufe, Sichtbarkeit und Einflussmöglichkeiten in Organisationen. In den meisten Fällen geschieht dies unbeabsichtigt als eine Art Nebeneffekt, den man gratis dazubekommt, obwohl man ihn nicht bestellt hat.
Diese zwei Fallbeispiele sollen dabei aber vor allem auch deutlich machen, dass sich zwar die Symptome oft ähneln, die darüber liegenden Bezugsprobleme aber in jedem Unternehmen unterschiedlich sein können.
Was kann man also tun, wenn man den Verdacht hat, dass das eigene Unternehmen einen blinden Fleck bei der digitalen Transformation hat?
Ein Anfang kann die Beantwortung folgender Fragen stehen (und viele weitere nützliche Fragen sind im erwähnten im Whitepaper zu finden):
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Welche etablierten Strukturen in Bezug auf Entscheidungsspielräume im Unternehmen werden durch die digitale Transformation berührt, infrage gestellt oder verändert?
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Welche bisher funktionierenden kurzen Dienstwege und kollegialen Austauschmöglichkeiten fallen durch die Digitalisierung möglicherweise weg? (Und wo entstehen nun digital neue?)
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Wo verlieren bisherige Informationsträger ihre Autorität und wer gewinnt durch die Digitalisierung möglicherweise an Einfluss? Wo könnte dies problematisch sein?
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Und wie kann man die neuen digitalen Prozesse, Produkte und Services nicht nur additiv dem Bestehenden zufügen, sondern alte und neue Organisationsstrukturen aufeinander abstimmen?
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Wir sind gespannt:
Was wird bei dem Beantworten dieser Fragen in Eurem Unternehmen sichtbar?
Woraus können wir lernen? Und was wirft immer noch Fragen auf?
Tretet mit uns in den Austausch und berichtet von den Digitalisierungsprojekten in Euren Unternehmen!