Die Hildesheim Papers 1 - Neujahrs-Stammtisch

DER NEUJAHRSSTAMMTISCH
Feat. Hubertus Heil, Gitta Peyn, Sahra Wagenknecht, Lars Poppenborg und Nils Pfläging

Community  |  25. Januar 2022

Die Hildesheim Papers 1 – Neujahrs-Stammtisch

Geschrieben von Florian Städtler

Erster Akt: Die Stammtischschwestern und -brüder

Wir befinden uns im Partykeller in einem Safe House in Hildesheim. Warum in Gottes Namen Hildesheim? Vielleicht weil hier der hochbegabte Gunter Dueck die Schulbank drückte? Weil es nahe bei Hannover liegt – dort lebt schließlich ein Drittel von Lars Poppenborg? Die Auflösung des Rätsels kommt von Stammtischbruder Hubertus höchstselbst.

“Bin in Hildesheim geboren und aufgewachsen. Und als ich von diesem Treffen gehört habe, habe ich zu meinen Beratern gesagt: Lasst uns das in Hildesheim machen. Die Stadt steht für historische Wallanlagen, dahinter aber liegt ein Gebiet, das heißt “Liebesgrund”. 

Hubertus sitzt auf einem abgewetzten, braunen Ledersofa im großzügigen, abhörsicheren Partykeller der Sozialwohnung, in der er seine Jugend von 1972 an verbrachte. Im Stuhl- bzw. Couch-Kreis um ihn herum eine Runde, wie sie wohl so noch noch nie versammelt war. 

Zu Hubertus’ Rechten sitzt Gitta Peyn auf einem Elfenbeinhöckerchen, den ihr die anderen Anwesenden heimtückischweise als einzige Sitzgelegenheit übrig gelassen haben. Sie ignoriert diesen Wink souverän, im Stile einer großen Denkerin, für die ein weltumfassendes Denksystem wie das von ihr und ihrem Mann Ralf entwickelte der kleinste gemeinsame intellektuelle Nenner ist. Der anfängliche Smalltalk zwischen Lehrerinnen-Sohn Hubertus und der System-Forscherin Gitta ist nicht überliefert. 

Zu Hubertus’ Linken hat die Eventregie Sahra Wagenknecht platziert, die streitbare Ikone der Linken, ikonisch verpartnert mit Oskar Lafontaine. Sahra ist gerade wieder auf Lesereise für ihr neuestes Buch und nebenbei in den 20. Deutschen Bundestag eingezogen. Ohne dass hier im Safe House in Hildesheim bisher irgendetwas Inhaltliches passiert wäre: Allein das Bild – von links nach rechts – Gitta Peyn, Hubertus Heil und Sahra Wagenknecht, das ist großes Kopfkino und verspricht einen Neujahrs-Stammtisch der Arbeit von historischer Dimension.

Doch da sind ja noch zwei…oder doch drei? OK, sagen wir zweieinhalb. 

Aus dem benachbarten Hannover eingeflogen, fletzt sich der scheinbar für immer junge, schlanke und hellwache Lars Poppenborg auf einem Designer-Stuhl aus Barcelona – und zwar als Hologramm (Also nicht der Stuhl, sondern die Person bzw. die Personen. Vor zwei Jahren machten Lars Vollmer und Mark Poppenborg, Serial Entrepreneur-Genies in Sachen “Luhmann-für-Dummies” wieder einmal Schlagzeilen als sie ihre Körper und Hirne zu einem multiplen, postmodernen Cyborg fusionierten. Aus zwei Unternehmer-Freunden wurde so eine Entität, die wiederum in verschiedensten Avataren simultan überall auf der Welt Vorträge halten, Manager beraten sowie Fortbildungen und Masterclasses durchführen können. 

“Das ist wunderbar” lacht Lars, “ich kann Menschenansammlungen sowieso nicht besonders leiden und kann jetzt trotzdem unser eigenes Festival besuchen und an solch schrägen Sachen wie hier teilnehmen.” Und Poppenborg fügt hinzu: “Wir haben das mit den individuellen Avataren damals, als Corona anfing, mit unserer Akademie getestet und kein Mensch hat das gemerkt. Und nachdem der Pilot ein voller Erfolg war, wollte ich wieder mal was Neues ausprobieren. Wir waren ja nach 10 Jahren sowieso schon gefühlt verheiratet, da war der Schritt zum Cyborg, der als multipler Stellvertreter von uns unterwegs ist, nur noch ein kleiner.”

Hubertus Heil denkt an Fachkräftemangel, dann an seinen jüngsten Vorstoß in Sachen beruflicher Fortbildungs-Förderung und wundert sich gleichzeitig, warum die leckeren Schnittchen schon wieder alle weg sind. Sahra und Gitta haben jedenfalls kaum etwas gegessen. 

Und schließlich fällt sein Blick auf den eigentlichen Überraschungsgast: Es ist kein geringerer als Niels Pfläging, der Gründer des geheimnisvollen “Beton Codex”. Tatsächlich könnte man sich die fachlichen Botschaften, die zuhauf in Form von Whitepapers, immer neuen Büchern, Websites, Softwares, Vorträgen, Konferenzen usw. usw. an die Öffentlichkeit gerichtet werden, ganz gut als Cyborg-Erweiterung in Form eines Lars Pflägingborg vorstellen. Denn ganz vieles ist von denselben Meisterinnen und Meistern der Systemtheorie und des zeitgemäßen Management abgeschrie…ich meine, äh, inspiriert. 

Aber keiner hat eine solch spektakuläre Verpackung wie Niels Pfläging, Silke Hermann und das Biotop rund um die  Beton Codex-Community und die angedockten Erwerbs-Modelle. Wenn der Vatikan eine Entsprechung in der Organisationsentwicklungs-Welt hätte, dann würde sich Niels täglich mit Pfläging streiten, wer denn heute Jesus, Gott oder der Papst sein darf. Auf Nils Pflägings digitaler Visitenkarte steht “Management-Exorzist” und seinen Weg pflastern die Opfer der heiligen Inquisition in Sachen Führung und Zusammenarbeit. Sein Revier markiert der bissige Verteidiger der selbsterfundenen, reinen Lehre, indem er seine größten und aktivsten Bewunderer schon bei minimalem Widerspruch oder Hinterfragen des über ein Jahrzehnt angerührten, von Management-Vordenker Daniel Mezick inspirierten Framework-Betons auf Twitter blockiert. Der von den Geblockten selber verliehene Hashtag #blockedbyniels war anfangs eine Art Verdienstorden am digitalen Bande. Doch das hat sich aufgrund der inflationären Blockade-Tätigkeit des Exorzisten inzwischen relativiert: Inzwischen, so finden manche, wäre es durchaus interessant, so sagen viele, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch das ist gar nicht so einfach…außer man vergibt einen Auftrag an Nils’ und Silkes Beratungs-Company Red42.

Hubertus Heil ist sicher nicht nur für Jüngerinnen und Jünger des Beton Codex ein Beelzebub. Und ein Bundesministerium mal mit wirklich neuen Ideen zu ghostbustern, das haben wohl alle Anwesenden im Heil’schen Geheim-Partykeller zu spannend gefunden, als dass man hätte absagen können. 

Nun sitzen sie also dort, in Hildesheim, vom BKA und BND abgeschirmt, essen die Schnittchen, die der Sozialminister nicht schon erledigt hat, und harren dem, was da kommen mag. Bisher hat sich noch keiner aus der Smalltalk-Komfortzone herausgewagt. Man plaudert über Schwaben in Berlin, den neuen Trainer von Hannover 96 und fachsimpelt über das Podcasten als Person des öffentlichen Lebens. 

Bis – durch die Regie über den Knopf im Ohr des Ministers ausgelöst – der Gastgeber und Minister das Wort ergreift. 

 

Zweiter Akt: Auf die Tagesordnung!

“Liebe Genossinnen und Kämpfer für die gute Arbeit, eure Zeit ist kostbar, egal ob echte Intellektuelle, halb-echte Linke, ja selbst als Teilzeit-Cyborg oder als hochmotivierter Fundamentalist. Danke, dass Ihr heute hierher gekommen seid, und das ohne zu wissen, warum. Damit möchte ich jetzt nicht länger hinter dem Berg bzw. dem Hildesheimer Wall halten. Ich will ganz offen sein: Wir hatten während Angela Merkels Spätphase eine gute Zeit. Kanzlerinnendämmerung, das bedeutete: Ruhige Kugel, Dienst nach Vorschrift, da konnte selbst Corona nicht viel dran ändern. Doch unmittelbar nach der Wahl wurde uns ein Papier zugespielt, das hatte Sprengstoff in sich. Das roch nach Ärger. Und nach Arbeit. Echter Arbeit.”

Und dann übergab Hubertus der konspirativen Runde Kopien eines einige Seiten umfassenden Skripts. “In 80 Fragen um die Arbeitswelt”, so der Titel des Dokuments hatte nicht nur das Haus des Arbeitsministers in Unruhe versetzt. Auch das Kanzleramt hatte sich eingeschaltet. “Nur einige Stunden, nachdem das Papier bei uns einging, war der Regierungssprecher dran”, berichtete der Arbeitsminister mit Sorgenfalten. “Wir können zum Start der Ampel jetzt keine schwierigen Themen gebrauchen. Und schon gar keine, die mit Arbeit zu tun haben”, warnte Steffen Hebestreit, der seinen Namensvetter Steffen Seibert am 9. Dezember abgelöst hatte. 

Im Partykeller von Hildesheim servierte Hubertus’ Frau Solveig inzwischen niedersächsische Tapas, kleine deftige Stückchen. Diesmal griffen die Gäste schneller zu, was dem Gastgeber nicht entging. “Die Verfasser des Papiers”, so ließ er seine Gäste wissen, “sind weder dem Verfassungsschutz noch dem BKA bisher durch Aktivitäten aufgefallen. Die Initiative kommt wie aus dem Nichts…”

“Expedition Arbeit”, schmatzte Sahra Wagenknecht. “Nie gehört, wer steckt denn dahinter?” “Ich hab das irgendwo schon mal gehört”, kommentierte Lars und zückte sein Quanten-Handy, um sich von diesem an die Dutzenden von kleinen und großen Marken, GmbHs und Holdings erinnern zu lassen, die er mit Poppenborg gegründet, getestet, verkauft, verschenkt oder vielleicht eben auch vergessen hatte.

“Hab ich noch gar nicht geblockt” kam’s aus Niels Pflägings Ecke. Niels stand übrigens schon seit einer geschlagenen Stunde neben einem Heil’schen IKEA-Stuhl. Alle anderen saßen – und das fand er richtig Scheiße. 

Gitta Peyn hatte gleich im ersten Satz des 80 Fragen-Dokuments fünf Logik- und neun Satzzeichen-Fehler entdeckt und versuchte nun den Text in ihre eigene FORMWELT-Sprache zu übersetzen. 

Die Spannung im Raum wuchs spürbar: Hubertus Heil brauchte eine Lösung. Am besten eine schnelle und einfache. Sahra hatte heimlich auf ihrem White Label-Gucci-Handy nach den aktuellen Verkaufszahlen ihres Buchs und ihrer Position bei Google Trends gelinst, sie blickte auf und sah in das ratlose Gesicht des Ministers. Da wurde ihr wieder mal klar, dass Müntefering damals komplett falsch lag: Opposition ist alles andere als Scheiße, im Gegenteil. 

“Was steht denn eigentlich in diesem 80-Fragen von dieser Expedition drin”, fragte sie kühl. 

“Die wollen herausfinden, was die Fragen sind, die wir allen gesellschaftlichen Gruppen stellen müssen, um …was schreiben sie hier…’sinnstiftende, selbstbestimmte und wirksame Arbeit für möglichst viele Menschen zu fördern’. Die wollen dazu wirklich ALLE fragen, also uns Politiker, die Wissenschaftler, die Arbeitgeber, die abhängig Beschäftigten, ja sogar die Arbeitslosen und Rentner, die Auszubildenden, die Studentinnen…” Hubertus’ Stimme zitterte leicht und bekam einen Anflug von Panik. 

“Wer das Wort ‘sinnstiftend’ so verwendet, sollte mal gründlich nachdenken oder besser gleich die Klappe halten. Gedankenlos. Hirnlos. Verantwortungslos”, zischte es aus der Exorzisten-Ecke.

“Mensch, Niels, entspann dich” lächelte Gitta zurück. Sie hatte in den letzten viereinhalb Minuten mehrere vorher noch völlig unbekannte Gehirnregionen mit Synapsen bevölkert. So musste das sein, wenn Musk, Branson oder Bezos mit ihren Raketen spielten. Nur besser. “Sag mal Lars: Hast Ihr zwei nicht damals auch so eine Bewegung angefacht und die dann letzten Herbst frei gelassen?”

Lars fuhr sich nachdenklich durchs dank der Bio-Fusion mit Poppenborg wieder volle Haupthaar, da vibrierte sein Quanten-Telefon und meldete laut und deutlich: “Expedition Arbeit ist die Community zur Gestaltung der Arbeitswelt. Im November 2020 aus den Communities von intrinsify und AUGENHÖHE hervorgegangen und seitdem als offenes ‘Netzwerk der Netzwerke’ aktiv, um mehr sinnstiftende, selbstbestimmte und wirksame Arbeit für möglichst viele Menschen durch Vernetzung, Wissensaustausch und Öffentlichkeitsarbeit zu fördern.”

“Eine Community, was soll das sein? Wer braucht sowas? Vernetzung, Wissensaustausch, Öffentlichkeitsarbeit – das machen wir doch schon alles im Ministerium, wir haben sogar einen eigenen Think Tank”, Hubertus klang genervt. “So, wir haben noch eine Dreiviertel-Stunde, was steht denn noch auf der Tagesordnung…?”

“Ausbrech-Räume” erwiderte Wagenknecht mit Blick auf ihren Kalender. “Was soll das denn sein?” Auch der Minister musste kurz nachdenken, fing sich aber schnell wieder. “Ausbrech-Räume…das ist so eine neumodische Form von Gruppenarbeit. Wir verteilen uns in Grüppchen und denken über nächste Schritte nach. Und weil es dem Kanzler ausgesprochen am Herzen liegt, dass wir die Lage schnell wieder unter Kontrolle bekommen, hat das Kanzleramt jedem von uns a) eine Packung Glückskekse geschickt, dazu b)  die Aufforderung, die Lösungsvorschläge, also was wir in Sachen “80 Fragen” tun können, in einem “Wunsch an Olaf” zu formulieren. 

“Jeder von uns hat einen Wunsch an den Kanzler frei?” fragte Lars. “In unserem Fall zwei!” echote es aus dem Cyborg-Mund von Poppenborg. Ganz plötzlich war wieder Energie im Raum und auch dank ausreichend aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellter alkoholischer Getränke stieg die Stimmung im Partykeller und kurze Zeit später machten sich die Beteiligten auf in drei Ausbrech-Räume.

 

Dritter Akt: Ausbrech-Räume

Das Los hatte entschieden: In Ausbrech-Raum 1 trafen sich Wagenknecht und Pfläging, in Ausbrech-Raum 2 zerlegte Gitta Peyn das ministerielle Gehirn nach allen Regeln der Kunst. Im dritten Ausbrech-Raum hatten Lars und Poppenborg ein hervorragendes Gespräch mit sich selbst.

Die Sessions waren für jeweils 30 Minuten geplant. Sie dauerten schließlich über sieben Stunden und endeten mit einer gemeinsamen Nachtwanderung durch den Hildesheimer “Liebesgrund”. Dort, im Schein des Vollmonds vereinbarten die Konspirator:innen Vertraulichkeit gegenüber den Medien, schlossen aber in mehreren bilateralen Nebenvereinbarungen lukrative Vorverträge für die Veröffentlichung der gesamten Story über die eigenen Kanäle.

Und so entstand das, was die Weltöffentlichkeit im Allgemeinen und die Arbeitswelt im Speziellen unter dem Titel “Hildesheim Papers” noch für sehr lange Zeit in Aufregung versetzen sollte. 

Denn diese Geschichte, angestoßen von einer Truppe pragmatischer Skeptiker, aufgegriffen von einem Bundesministerium, weitergeschrieben von drei Nischen-Organisationen rund um Führung und Zusammenarbeit, diese Geschichte sollte in der Folge noch alle New Work-Blasen sprengen, immer mehr und völlig verschiedene Akteure in ihren Bann ziehen und schlussendlich Denken über Arbeit und Zusammenarbeit in unserer Gesellschaft auf den Kopf und wieder auf die Füße stellen.

 

Die Hildesheim Papers – EPILOG 

Was haben sich die fünf Teilnehmer des Hildesheimer Treffens von Olaf Scholz gewünscht? Warum gab Lars Poppenborg vor, sich nicht an intrinsify erinnern zu können? Welche Rolle spielt AUGENHÖHE in diesem Arbeits-Krimi? Und wie kam die Redaktion von Expedition Arbeit an die geheimen Protokolle? Wie genial ist das denn, dass jetzt monatlich eine Folge der Hildesheim Papers erscheinen wird?

Sehr genial. Denn nirgendwo in der Medienlandschaft wurde so knallhart recherchiert und schonungslos aufgedeckt. Niemals zuvor haben sich die Mächtigen der Arbeitswelt so in die Karten schauen lassen. Kein Investigations-Team wuchs jemals so schnell wie das Netzwerk Expedition Arbeit. Und kein Podcast vermischte jemals so gekonnt Fakt, Fiktion, Wunsch und Wirklichkeit. 

Die Hildesheim Papers: Bessere Arbeit, Sex, Drugs & Rock’n’Roll. 

 

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Autor: Florian Städtler

Zuerst veröffentlicht in Sendung 99 des Community Radios von Expedition Arbeit am 6. Februar 2022.

 

 

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